Deutsches Gesundheitssystem

Mercedes bezahlen, VW fahren?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Gesundheitsökonomen kennen das Bonmot: „Wir bezahlen einen Mercedes und fahren einen VW Golf.“ Nun ist ja ein Golf kein schlechtes Auto, sollte aber billiger zu haben sein als ein Wagen mit dem Stern. Doch es geht noch grotesker: Die USA zahlen Ferrari-Preise, je nach Versicherungsstatus entspricht die Gegenleistung bei allzu vielen Bürgern nicht mal VW-Niveau. Auch bei uns drohen zumindest S-Klasse-Preise, und der Gegenwert schwindet immer mehr in Richtung eines VW Polo …

Gemäß den OECD Health Indicators (siehe https://data-explorer.oecd.org) gaben die USA in 2022 sagenhafte 4,2 Billionen US-$ für „Healthcare“ aus (40 % der globalen Gesundheitskosten!), wir in kaufkraftbereinigten Dollar 0,72 Billionen. Die USA haben jedoch vier Mal so viele Einwohner wie Deutschland. Pro Kopf und Jahr – wieder in kaufkraftparitätischen Dollar – lagen die USA erwartungsgemäß mit 13.000 $ ganz vorn. Wir rangieren mit rund 8.500 $ deutlich über Ländern wie Niederlande (7.300 $), Frankreich (7.000 $) oder Dänemark (6.700 $) – allesamt Nationen, die nicht unbedingt für ein marodes Gesundheitswesen bekannt sind. Verstörend sind Beträge von 500 $ (Indonesien) oder 300 $ (Indien), was gleichzeitig aber die enormen Wachstumspotenziale der Life-Science-Branche am anderen Ende der Welt markiert.

Die Ursachenforschung könnte ganze Bücher füllen. Dennoch lassen sich speziell bei uns einige überproportional kostentreibende Kernbereiche ausmachen, denen nicht unbedingt ein adäquater Gegenwert gegenübersteht. Ganz vorne rangiert die Überregulierung und Überbürokratisierung. Die Bürokratie frisst nach schon älteren Untersuchungen rund 25 % auf, und das ist die letzten Jahre nicht weniger geworden. Des Weiteren leisten wir uns eine doppelte Facharztstruktur – wir haben Onkologen, Neurologen, Orthopäden u. a. m. in der Niederlassung und zudem im Krankenhaus. Das machen viele Länder anders. Wir haben eine zu hohe Anzahl an Krankenkassen und erlauben uns zudem eine Spaltung in eine gesetzliche sowie die private Krankenvollversicherung. Das frisst gleichfalls erhebliche Ressourcen und führt zu Fehlallokationen (die Terminvergabe von GKV- versus Privatpatienten ist nur ein Indikator).

Der teuerste, nämlich der stationäre Sektor mit deutlich über 100 Mrd. € ist eine Dauerbaustelle, welche von unserem Gesundheitsminister einstweilen zur Großbaustelle gemacht wird – Ende offen. So leisten wir uns pro Kopf der Bevölkerung mit am meisten Krankenhausbetten weltweit, und bei den Liegezeiten besteht auch einiger Abstand zu den Besten. Wir haben tatsächlich zu viele Kliniken, darunter eine zu große Anzahl solcher, die einen umfassenden Versorgungsauftrag gar nicht erfüllen können, da zu klein. Und bei der Trägerschaft lassen wir etliche „Rosinenpicker“ in privater, stramm gewinnorientierter Hand zu.

Last but not least droht uns die Hochleistungsmedizin über den Kopf zu wachsen. Wir stecken mittendrin in der Fortschrittskostenfalle: oft nur wenige Prozent bessere Therapieergebnisse für ein Vielfaches der Preise, aber eben auch Dinge wie „Krebs als chronische Erkrankung“ zu teils abenteuerlichen Jahrestherapiekosten. Hier läuft die Biotechnologie gerade zu höchster Form auf, mit Zell- und Gentherapien an der Spitze der Innovation zu sechs- bis teils siebenstelligen Beträgen. Für den Einzelnen mag das tatsächlich einen großen Fortschritt bedeuten. Im Vergleich zu den gesamten Lebenszeit-Kosten eines durchschnittlichen Kassenpatienten von rund 350.000 € sind das aber schon schwer zu schluckende Brocken, was nur aufgeht, solange es seltene Therapien bleiben. In Anbetracht der Inzidenzen von Krebs, Alzheimer, diverser Autoimmunerkrankungen und der in Summe gar nicht so seltenen „Orphan Diseases“ wird rasch klar, welche Kostenbomben dort lauern.

Alle diese Baustellen gälte es konsequenterweise zu bearbeiten. Das wäre mehr als ein Großreinemachen, es wäre die Operation am offenen Herzen. Kein Wunder, dass bisher jede Regierung davor zurückgeschreckt ist und es bei Stückwerk belassen hat. Es spricht viel dafür, dass es einstweilen dabei bleiben wird. Die Zeche dieser Verschleppungspolitik zahlen wir alle, aber das ist ja auf anderen Politikfeldern nicht anders. Flickwerk nach Kassenlage, also nichts Neues in der Republik.

 

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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