Pro & Contra Direktabrechnung – eine differenzierte Analyse

Wenn Digitalisierung auf bürokratische Trägheit trifft


André Welke

Mit der Einführung des E-Rezepts muss Vieles neu justiert werden – auch die Rolle der Rechenzentren. Nicht mehr zeitgemäß, tönen die Verfechter einer Direktabrechnung zwischen Apotheken und Krankenkassen. Wichtige Clearing-Instanz, die den Apotheken einen Berg von mühsamer Detailarbeit für kleines Geld abnimmt, halten die ARZ dagegen. Die Tücke steckt tatsächlich im Detail – auch was die Kostenseite anbetrifft. Der Artikel liefert Ihnen eine differenzierte Analyse zu diesem wichtigen Thema mit Stimmen beider Fraktionen sowie aus der Apothekenpraxis.

Wenn Digitalisierung auf bürokratische Trägheit trifft....
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Die Digitalisierung durchdringt mittlerweile alle Vorgänge unseres privaten und beruflichen Lebens. Besonders der Finanzbereich und damit auch das Rechnungswesen inklusive Abrechnungsprozesse unterliegen rasanten Veränderungen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Apothekenbetrieb neue Spieler eine traditionelle Domäne bedrängen, nämlich die der Rechenzentren. Seit über einem halben Jahrhundert versuchen diese – laut Eigenwahrnehmung – den Apotheken den Rücken freizuhalten, indem sie die eingelösten Rezepte mit den 95 gesetzlichen Krankenkassen und weiteren Kostenträgern abrechnen.

Obsoleter Obolus

Ist das noch zeitgemäß? Nein, meinen mit dem Duktus fester Überzeugung die Vertreter der Direktabrechnung. Spätestens, seit das E-Rezept das Muster-16 in Papierform weitestgehend abgelöst habe, sei der eigentliche Existenzgrund der Rechenzentren – das Einscannen, Verwalten und Abrechnen von Papierrezepten – gänzlich hinfällig geworden. Direkt und digital verliefe nun der Weg zu den Krankenkassen, und der an die Rechenzentren abgeführte Obolus – bei den meisten Apotheken immerhin um die 5.000 € jährlich – sei somit obsolet.

Sichere Bank – wenngleich ohne Lizenz

Dem halten die Betreiber der Rechenzentren ihre Expertise im Bewältigen eines bisweilen undurchdringlichen Abrechnungsdickichts entgegen. Mit dem vergleichsweise simplen Abrechnen von E-Rezepten sei es nicht getan, wirft Marc Beushausen von NARZ AVN ein. „Das Eintreiben von Herstellerrabatten, Retaxationsprüfungen, sowie das Nachklären (Clearing) von Differenzen zwischen Rechnungsbeträgen und Zahlungseingängen sind ebenso wie das korrekte Erfassen und Verarbeiten der weiterhin bestehenden Papierrezepte von BTM über T-Rezepte bis zu 105er-Verordnungen Dienstleistungen, die die nur wenige Apotheken in Eigenregie erfüllen können.“

Frank Böhme: „Versucht man, mit dem Festhalten an der Papierrechnung die in Paragraph 300 SGB V festgeschriebene Direktabrechnung zwischen Apotheken und Krankenkassen zu blockieren?“

Zwar umfasse der Anteil von Papierrezepten nur noch zwischen 20 % und 30 %, diese stünden aber für gut 50 % der Umsätze. Die Erfassung von Papierrezepten sei z. B. bei Zytostatika immer noch ein personalintensiver, z. T. händischer Prozess, und auch die korrekte physische Übermittlung in vorgeschriebener Kennzeichnung und Sortierung sei nicht ohne Weiteres in Eigenregie zu leisten.

Überdies garantierten die Rechenzentren den Apotheken den Erhalt ihres Geldes, da nur sie berechtigt seien, bis zu 80 % der Vormonatsrechnungen als Kassenabschlag zu erhalten und weiterzugeben – sind Rechenzentren ergo eine, wenn auch nicht als solche lizensierte, so doch „sichere Bank“?

Die Hoheit über die Abrechnung zurückgewinnen

Letzteres Argument bekam 2020 mit der Insolvenz des Rechenzentrums AvP, bei der zweieinhalbtausend Apotheken insgesamt mehr als 300 Mio. € verloren haben, Risse. Seitdem fordert Frank Böhme, CEO der Dresdner Softwareschmiede Scanacs, „dass mit der Direktabrechnung die Apotheke die Hoheit über ihre Abrechnungsprozesse zurückerhält.“

Die bisher übliche langwierige Rezeptprüfung hält er für nicht mehr zeitgemäß: „Die qualifizierte Leistung in der Apotheke muss zeitnah und adäquat honoriert werden und Apothekern eine autonome Liquidi-tätssteuerung erlauben.“

Michael Dörr, seines Zeichens Vorsitzender der ARZsoftware eG und als ehemaliges Vorstandsmitglied des VDARZ flammender Vertreter der Interessen kleiner Rechenzentren in privater Hand, sieht das differenziert: „Rechenzentren können ihre Services anbieten und dabei ebenfalls die direkte Zahlung der Krankenkasse auf das Konto der Apotheke veranlassen. Es zeigt sich aber, dass die Krankenkassen damit schnell überfordert sind.“

Sein Resümee: „In einer Zeit, in der Tätigkeiten, die nicht zu den Kernaufgaben eines Geschäftsbetriebes zählen, oftmals an professionelle Dienstleister ausgelagert werden, erscheint der Gedanke des ‚selber Abrechnens‘ daher wundersam.“ Warum also etwas an einer Dienstleistung ändern, die „aus Sicht der Apotheke so unauffällig und selbstverständlich ist wie der Strom aus der Steckdose?

Die Antwort darauf weiß Benedikt Bühler vom LAV Baden-Württemberg. Mit seinen gerade mal 25 Jahren steht er stellvertretend für eine neue Generation des Berufsstandes: Viel Zeit und damit Geld wird in dem ganzen Rezeptabrechnungsprozess verbrannt, daher kommt ja auch mein Engagement für die Direktabrechnung.“

„Unnütze Kosten verursacht außerdem die zum Teil noch antiquierte Kommunikation mit den Krankenkassen: Da werden immer noch Kostenvoranschläge per Fax hin- und hergeschickt. Es ist höchste Zeit, dass die sichere Kommunikation über KIM auch für die Kassen verbindlicher Standard wird!“

Alles oder nichts …?

Doch Marc Beushausen pocht auf geltendes Recht: „Nach derzeitigen Regeln muss die Apotheke wählen, entweder die gesamte Abrechnung direkt zu übernehmen – inklusive der komplizierten Fälle – , oder alles über ein Rechenzentrum laufen zu lassen.“

Das sieht Michael Dörr anders: „Natürlich ist auch eine Mischform zwischen Rechenzentrum und Direktabrechnung möglich, es ist nur zu bedenken, dass die Kosten des Rechenzentrums dann natürlich deutlich höher ausfallen.“ Dass die bisherigen Preise der Rechenzentren Mischkalkulationen sind (bzw. waren), darin sind sich die Befürworter der Rechenzentren einig.

Wie sieht nun die aktuelle Rechtslage tatsächlich aus? Erstaunlicherweise beziehen sich sowohl Frank Böhme als auch Benedikt Bühler auf die Verträge nach § 300 SGB V – und zwar in exakt gegenteiliger Auslegung. Bühler: „Laut § 300 Absatz 2 Satz 1 SGB V können Apotheken ihre Abrechnung an die Rechenzentren auslagern, sie müssen es aber nicht. Auch der Rahmenvertrag sieht vor, dass Sammelrechnungen aus den ARZ genauso zulässig sind wie Einzelrechnungen aus Apotheken.“

Michael Dörr: „Es verändert sich nahezu monatlich etwas am Abrechnungsprozess und den vertraglichen Vorschriften. Das muss alles eingepreist werden. Die Kosten dafür werden sicherlich an die 300 € pro Apotheke monatlich heranreichen.“

 

Böhme drängt auf eine Modernisierung bestehender Geschäftsmodelle, wenn er fragt: „Versucht man, mit dem Festhalten an der Papierrechnung die in § 300 SGB V festgeschriebene Direktabrechnung zwischen Apotheken und Krankenkassen zu blockieren?“

Lukratives Geschäft mit den Rezeptdaten der Apotheken

Hinter diesem ganzen Ringen zweier höchst unterschiedlicher Abrechnungsphilosophien um die Gunst der Apotheken stehen nicht zuletzt handfeste wirtschaftliche Interessen der jeweiligen Vertreter: Sind doch die Daten selbst – sogar in ihrer anonymisierten Form – sehr viel wert.

Derjenige, der die Datenströme zukünftig durch sein Abrechnungssystem lenkt, kann sich durch deren Verkauf einen erheblichen Zusatzverdienst sichern. Für die Apotheken ist die Situation durchaus zweischneidig. Schließlich gilt es auch zu bedenken, dass die Kassen bei einer Direktabrechnung auf sehr viel mehr Daten als bisher Zugriff hätten, da sie statt einer Sammelrechnung einzelne Verordnungen einsehen könnten.

Michael Dörr ist sich dieses Defizits der digitalen Welt sehr bewusst, wenn er feststellt, dass der „persönliche Kümmerer“ im Apothekenrechenzentrum zu den von den Apotheken am meisten geschätzten Leistungen zähle.

 

Übrig bleibt das Clearing

Es klingt gehörig nach Rückzugsgefecht, wenn die Vertreter der Apothekenrechenzentren zudem erklären, dass mit der Etablierung der E-Rezepte die Übersetzung von analogen in digitale Daten entfalle und das Banking – vorsichtig gesprochen – zurückhaltend bewertet werde.

Übrig bliebe das Clearing, und diese Dienstleistung sei auch im E-Rezept-Zeitalter notwendig, weil die Abrechnung mit den Krankenkassen ein komplexes Verfahren darstelle – komplexer als es manche wahrhaben wollen.

Es scheint also durchaus Verständnis für die Vorzüge und Interessen des anderen Lagers zu geben, und vielleicht steht sogar der Gedanke im Raum, man würde mit dem Besten beider Welten am elegantesten fahren.

Oder, wie Benedikt Bühler es ausdrückt: „Es gibt einigen Widerstand gegen die Direktabrechnung, aber unter Reibung entsteht bekanntlich Wärme …“

Wobei Michael Dörr hier etwas skeptisch kontert: „Die Erfahrung zeigt, dass diese Wärme erst ein Großfeuer entzünden muss, das alles in Schutt und Asche legt, bevor die ‚alten weißen Männer‘ auch nur ein Stück an Innovation betreiben wollen.“

Ist die Direktabrechnung unterm Strich günstiger?

Es bleibt die Erkenntnis, dass bei der Prozessdigitalisierung zwei Dinge von entscheidender Bedeutung sind:

  1. die Bereitschaft, etablierte Prozesse in Frage zu stellen sowie
  2. die Wahl geeigneter Software-Partner.

Apotheken, die die Umstellung auf Direktabrechnung planen, sollten beide Aspekte gut durchdenken. Wenn die Software-Lizenzkosten die Einsparungen bei Rechenzentren auffressen, ist am Ende nichts gewonnen – schon gar nicht, wenn zusätzlicher Zeitaufwand entsteht.

Auch Michael Dörr teilt diese Skepsis: „Die Software-Plattform für die Direktabrechnung braucht Entwicklung und Pflege und erzeugt darüber hinaus Hosting-Kosten. Aus der Erfahrung der Apotheken-Rechenzentren verändert sich nahezu monatlich etwas am Abrechnungsprozess und den vertraglichen Vorschriften. Das muss alles eingepreist werden. Diese Kosten werden sicherlich auch an die 300 € pro Apotheke monatlich heranreichen.“

Und damit sei man gar nicht mehr so weit von den aktuellen Kosten entfernt.

Apotheken sind keine Bittsteller

Schlussendlich gilt es noch zu beachten, dass sämtliche Dienstleister – egal ob Rechenzentren, Krankenkassen oder Softwareanbieter – einen bedeutenden Teil ihres Gewinns durch den Verkauf der Daten generieren und nicht allein über Dienstleistungen oder Lizenzen.

Die Apotheker sind insofern keine Bittsteller, die hilflos durch das Minenfeld von Bürokratie und Digitaltechnik geführt werden müssten, sondern umworbenes Objekt der Begierde.

Daher ist das Mindeste, was sie für sich einfordern können, Aufwand sowie Kosten klein und die Diskretion des Datenflusses groß zu halten.

Historisch gewachsene Branchen-Schwergewichte unter Zugzwang

Die Geschichte der Rechenzentren reicht zurück bis 1954, dem Gründungsjahr des Norddeutschen Apotheken-Rechenzentrum (NARZ) als Abrechnungsstelle der Bremer Apotheken. Gab in den Anfängen der Apotheker die Rezepte noch persönlich ab und wurden diese dann per Hand und Rechenmaschine aufsummiert, um sodann die Abrechnungen per Fahrrad zu den Krankenkassen zu transportieren, hielt Ende der 1960er Jahre die Digitalisierung Einzug: 1967 entstand in München das bundesweit erste digitale Rechenzentrum, die Verrechnungsstelle der Bayerischen Apotheken e. V. (VBA). Wenige Jahre später etablierten sich Rechenzentren bundesweit, existierte doch 1970 die gewaltige Zahl von 1.815 Krankenkassen. Die neue Technologie erwies sich für die Apotheken als die durchweg beste Lösung, das herrschende Abrechnungsdickicht zu bewältigen. Die Initiative ging damals direkt von den Apotheken und besonders auch ihrer Verbände aus: Die Apothekervertretungen reagierten schnell und nahmen das Geschäft selbst in die Hand. So entstanden neben VSA und ARZ Haan ab 1971 auch andere standeseigene Unternehmen wie das ARZ Darmstadt und das Norddeutsche Apotheken-Rechenzentrum (NARZ), das auch heute noch die Rechtsform eines Vereins besitzt.

Aus der Rezeptabrechnung wurde nun ein hochkomplexer technologischer Prozess: Netze von Kurierdiensten holten die Rezepte ab, diese wurden mit Hochleistungsscannern (240.000 Rezepte pro Stunde) erfasst und das digitale Abbild erstellt, das sogenannte Image. Aus ihm las eine Software alle Daten aus und erzeugte die Informationen, die für die Prüfung und Abrechnung des Rezeptes relevant waren. Am Ende des Prozesses managten die Rechenzentren den gesamten Zahlungsverkehr zwischen Krankenkassen, Herstellern und Apotheken. Industrierabatte wurden an die Krankenkassen weitergeleitet und Zahlungen der Krankenkassen an die Apotheken.

Heute werden von den Rechenzentren jährlich fast eine halbe Milliarde Rezepte verarbeitet sowie treuhänderisch über 40 Milliarden Euro Umsatz der rund 17.000 deutschen Apotheken. Während die Geldmenge stieg, reduzierte sich die Anzahl der Krankenkassen im Laufe der Jahre ständig. Von den 1.815 Krankenkassen im Jahr 1970 waren im Jahr 2000 lediglich 420 übrig. Heute gibt es nur noch 95 Kassen. Auch die Zahl der Rechenzentren hat sich konsolidiert: Ganze 18 konkurrieren heute noch um die Gunst der Apotheken, wobei der Markt von den Big Five beherrscht wird – allesamt apothekereigene Unternehmen: VSA (früher: Verrechnungsstelle der Süddeutschen Apotheken), NARZ (Norddeutsches Apothekenrechenzentrum), ARZ Haan, ARZ Darmstadt sowie die Rezeptabrechnungsstelle Berliner Apotheker (RBA). 13 weitere mehr oder weniger große private Anbieter teilen sich den Rest.

André Welke, Kommunikationswirt, Creative Consultant, 50668 Köln, E-Mail: mail@andrewelke.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2024; 49(24):6-6