Christina Grünberg

Bei allem Ernst des Themas gab es auf der Podiumsdiskussion auch Grund zum Lachen: (v.l.) Dr. Hubert Ortner, Prof. Reinhard Herzog, Melanie Dolfen und Johannes Bauernfeind. (© P. Horlacher)
Die Zahl der Hochpreiser im deutschen Arzneimittelmarkt steigt stetig an – für die Apotheken ist diese Entwicklung mit einigen Problemen verbunden. Mögliche Retaxationen, das Ausfallrisiko in der Apotheke selbst und die Vorfinanzierung sorgen dafür, dass viele vor diesem vermeintlich lukrativen Geschäft zurückschrecken.
Auch die Krankenkassen hadern damit, dass Hochpreiser die Arzneimittelkosten insgesamt immer weiter in die Höhe treiben. „Mit den Rabattverträgen im Generikamarkt erzielen wir Einsparungen, die wir dringend brauchen, um Hochpreiser-Therapien finanzieren zu können“, sagte der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Johannes Bauernfeind, beim Interpharm-Satelliten Apotheke & Wirtschaft am Donnerstag, den 27. März 2025.
Alle Pharmahersteller schielen auf Blockbuster
Im Zuge der frühen Nutzenbewertung verhandeln die Krankenkassen zwar die Erstattungspreise mit den Herstellern. Doch da als Bezugspunkt die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie dienen und diese zumeist ebenfalls hochpreisig sei, lassen sich laut Bauernfeind auf diesem Weg die Kosten nur unzureichend begrenzen. Auch AWA-Herausgeber Professor Reinhard Herzog attestierte der Industrie eine gute Verhandlungsposition, insbesondere wenn es in einer bestimmten Indikation nur wenige Therapie-Alternativen gibt.
„Firmen wie Roche oder Novartis fangen gar nicht erst mit Präparaten an, die am Ende nur 200 Mio. € einspielen“, so Herzog. „Die schielen alle auf Blockbuster im Milliardenbereich!“ Es sei ein offenes Geheimnis, dass bei Neuentwicklungen stets an der oberen Preiskante kalkuliert wird. „Man nimmt, was man kriegen kann. Runtergehen kann man immer noch – wenn es denn nötig sein sollte.“
Melanie Dolfen: "Beim Thema Retax müssen wir dringend einiges aufräumen, damit das Risiko für die Apotheken kleiner wird."
Verschärfend komme hinzu, dass Deutschland Leitmarkt in Europa sei und die Hersteller daher ein besonderes Interesse daran hätten, die Preise hierzulande hochzuhalten. Herzog regte an, ob es nicht besser sei, wenn die Europäische Union die Erstattungspreise für alle Mitgliedstaaten aushandeln würde, als dass jedes Land einzeln tätig wird.
Bauernfeind kann dieser Idee offenbar etwas abgewinnen. Er betonte, dass auf Deutschland nur etwa 4 Prozent des weltweiten Arzneimittelmarktes entfallen, auf die EU hingegen rund 25 Prozent. Bei Hochpreisern ist der Anteil sogar noch deutlich höher. Insofern könnten europäische Verhandlungen die Situation gegenüber der Industrie merklich verbessern. „Wichtig ist aber, dass sich dadurch der Zugang zu neuen Arzneimitteln nicht relevant verzögert“, unterstrich Bauernfeind.
Dass Pharmaunternehmen und GKV-Spitzenverband unter bestimmten Bedingungen inzwischen vertrauliche Erstattungsbeträge vereinbaren können, geht hingegen aus Sicht des Kassenvertreters „völlig in die falsche Richtung. Das ist Industrie- und Standortförderung zulasten der GKV.“ Unter anderem wegen des hohen administrativen Aufwands, der damit verbunden sei, habe deshalb bisher auch kein einziger Hersteller von dieser Option Gebrauch gemacht.
Antiquierte Kommunikation per Briefpost und Faxgerät
Melanie Dolfen, die in der Diskussion die Praxisseite vertrat, kritisierte das Ungleichgewicht sowie die problematische Struktur in der Zusammenarbeit zwischen den Krankenkassen und Apotheken – Stichwort antiquierte Kommunikation über Briefpost und Faxgerät. Am meisten stößt sich die Inhaberin zweier Schwerpunkt-Apotheken in Berlin (eine für Medizinal-Cannabis und eine für HIV-Patienten) aber an dem oft unkalkulierbaren Ausfallrisiko: „Beim Thema Retax müssen wir dringend einiges aufräumen, damit das Risiko für die Apotheken kleiner wird.“ Wobei die AOK Baden-Württemberg in dieser Hinsicht tatsächlich recht gemäßigt agiert. „Retaxation ist kein Geschäftsmodell von uns“, erklärte dazu Johannes Bauernfeind. „Sie macht uns nur Arbeit.“
Die Zahlen aus der Praxis bestätigen das: So hat die AOK Baden-Württemberg von den 29 Mio. Verordnungen im letzten Jahr 0,4 % retaxiert – also jede 250. Verordnung. Zwei Drittel der Apotheken waren überhaupt nicht betroffen. Homöopathisch fällt der Anteil von Nullretaxationen aus: „Davon haben wir nur ein bis zwei Handvoll im Monat“, so Bauernfeind. Zu diesem Mittel greife man wirklich nur dann, „wenn die Unterschrift des Arztes fehlt“.
Reinhard Herzog: "Firmen wie Roche oder Novartis fangen gar nicht erst mit Präparaten an, die am Ende nur 200 Mio. € einspielen. Die schielen alle auf Blockbuster im Milliardenbereich."
Zwar können Apotheken weder auf die Preisgestaltung noch auf das Verschreibungsverhalten der Ärztinnen und Ärzte Einfluss nehmen – dennoch sieht Dolfen Möglichkeiten, wie die Teams dazu beitragen können, die Arzneimittelkosten zu senken.
Sie berichtete beispielhaft von einer Patientin mit multipler Sklerose, deren Schübe dank einer Behandlung mit Cannabis deutlich seltener auftraten als zuvor. „Dadurch ist auch ihr Bedarf an Interferonen gesunken“, sagte Dolfen. So sei es letztlich gelungen, Einsparungen bei der Therapie zu generieren.
10 Prozent (Einsparung) gehen immer
Auch Herzog liebäugelt damit, die Apotheken zu nutzen, um die Arzneimittelkosten in Schach zu halten. Seine Idee ist, eine neue pharmazeutische Dienstleistung speziell für Patienten mit Hochpreiser-Therapien zu schaffen. „Es gibt so viele kleine Stellschrauben, an denen man drehen kann – sei es die Dosierung, sei es die Kombination von Arzneimitteln –, das kann am Ende bei solch teuren Behandlungen durchaus etwas bewirken.“
Denn – so Herzogs feste Überzeugung – „10 Prozent (Einsparung) gehen immer“. Natürlich müssten mögliche Anpassungen stets im Zusammenwirken mit dem behandelnden Arzt geschehen. „Davon dürfen dann ruhig auch die Ärzte etwas haben“, sagte Herzog. Hinauslaufen soll dieser Ansatz darauf, dass alle profitieren – Arzt, Apotheke, Krankenkasse und nicht zuletzt der Patient.
Bauernfeind äußerte sich zu diesem Vorschlag verhalten. Er sehe zwar grundsätzlich Potenzial darin, aber „keinen besonders großen Hebel über die Apotheken“. Beim Optimieren der Therapie stehe der Arzt an erster Stelle. Dass hierzulande so vieles unter Ärztevorbehalt stehe, missfällt dem Chef der AOK Baden-Württemberg. „Da geht es nur um Hoheitsrechte und Pfründe. Und das macht unser Gesundheitssystem ineffizient.“
Denkbar ist für Bauernfeind, im Zuge der Einführung der elektronischen Patientenakte Erinnerungsfunktionen einzuführen und künstliche Intelligenz zu nutzen. Denn: „Die Patienten holen zwar ihr Medikament in der Apotheke ab, aber danach kommen sie ja nicht nochmals für eine Beratung wieder.“
Dem widersprach Dolfen: Sie und ihr Team versorgen viele Menschen mit HIV, die ihre Beratung sehr schätzten. „Manche legen sich sogar extra ihre Arzttermine so, dass sie bei uns auch sicher auf ihre Lieblingsmitarbeiterin treffen.“ In den Gesprächen entstünden enge Beziehungen. Häufig riefen die Patienten an, wenn sie Fragen hätten, sodass der Kontakt dauerhaft erhalten bleibe.
Gruselige Vorstellung
Einig waren sich die Diskutanten, dass eine Rationierung hochpreisiger Arzneimittel unwahrscheinlich und auch nicht erstrebenswert sei. Dolfen nannte die Vorstellung „gruselig“, Bauernfeind plädierte dafür, stattdessen verstärkt auf Prävention und einen gesunden Lebensstil zu setzen. Nach Herzogs Einschätzung könnte sich das Problem in 10 bis 20 Jahren ohmehin von selbst erledigt haben. Er rechnet damit, dass es immer mehr kurative Behandlungen geben wird und Krankheiten dank Früherkennungsprogrammen oftmals schon erkannt werden können, bevor sie klinisch werden. „Klassische Therapien, wie wir sie heute kennen, sterben dann aus.“ Die Umwälzungen in der Pharmaindustrie hätten bereits begonnen. „Wir steuern auf ein neues Zeitalter zu“, stellte Herzog in Aussicht.
Johannes Bauernfeind: "Retaxation ist kein Geschäftsmodell von uns. Sie macht uns nur Arbeit. So lag der Anteil an Nullretaxationen bei uns im letzten Jahr im niedrigen dreistelligen Bereich - bei insgesamt 29 Mio. Verordnungen."
Christina Grünberg, Apothekerin, Redakteurin DAZ online, Hauptstadtredaktion Berlin, E-Mail: c.gruenberg@dav-medien.de
Der Artikel basiert auf der Podiumsdiskussion auf dem INTERPHARM-Satelliten „Apotheke & Wirtschaft“ am 27. März 2025.
Die gesamte Veranstaltung ist als Video on demand noch bis zum 31. Juli 2025 im Internet (kostenpflichtig) abrufbar unter
Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2025; 50(08):6-6