Juristischer Hebel gegen Null-Retaxierung

Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz?


Dr. Markus Rohner

Das Thema Retaxierung betrifft nahezu alle Apotheken. Insbesondere die „Null-Retaxation“ führt häufig zu kaum nachvollziehbaren Ergebnissen und verständlichem Frust bei Apothekenleitern. Der Beitrag beleuchtet diese in der aktuellen Rechtsprechung und praktische Konsequenzen daraus.

Null-Retaxation bedeutet Frust für Apothekenleiter (@Andrey Popov/stock.adobe.com).

Apotheken führen in der Regel eine softwaregestützte oder händische Überprüfung der Rezepte durch, um Retaxationen zu vermeiden. Dennoch ist die Anzahl der durchgeführten Retaxationen erheblich, wie sich aus einer unlängst veröffentlichten Umfrage von DAP (Deutsches Apotheken Portal) ergibt (vgl. DAZ 47/2022, S. 44 ff.).

Wie Herzog (vgl. AWA 02/2023) richtig herausstellt, macht das Retaxvolumen bundesweit weniger als ein Promille des Abrechnungsvolumens aus und es stellt sich insofern die grundsätzliche Frage, ob der Aufwand der Kassen dazu in einem angemessenen Verhältnis steht. Addiert man den Prüf- und Verwaltungsaufwand der Apotheken, wird die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung als Ziel der Retaxationen unter dem Strich eher Schaden nehmen.

Die typischen Retaxbereiche sind allgemein bekannt: Sie reichen von der Abrechnung des Botendienstes, dem falschen Zuzahlungsstatus, unwirtschaftlichen Abgaben, fehlenden Sonder-PZN-Dokumentationen und der Missachtung von Rabattverträgen bis zu zahlreichen formalen (Rezept-)Fehlern (vgl. DAZ 47/2022, S. 48 ff.).

Liegen formale Rezeptverstöße vor, hat der Apotheker bereits vorab einen Handlungsspielraum, den er nutzen sollte. Denn in § 2 Abs. 6 (und Abs. 6 a) AMVV (Arzneimittelverschreibungsverordnung) ist geregelt, dass der Apotheker – in dringenden Fällen auch ohne Rücksprache mit dem Arzt – bestimmte Angaben auf der Verschreibung ergänzen darf. Damit lassen sich entsprechende Retaxationen vermeiden.

Null-Retax ist oft unverhältnismäßig

Zusätzlich regelt der Rahmenvertrag nach § 129 SGB V (Sozialgesetzbuch V) seit 2020, in welchen Fällen eine Beanstandung aufgrund von Formfehlern vollständig oder teilweise zu unterbleiben hat. In § 6 Abs. 1 d heißt es ausdrücklich:

„Der Vergütungsanspruch des Apothekers entsteht trotz nicht ordnungsgemäßer vertragsärztlicher Verordnung oder Belieferung dann, wenn es sich um einen unbedeutenden, die Arzneimittelsicherheit und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung nicht wesentlich tangierenden, insbesondere formalen Fehler handelt.“

Der Umkehrschluss aus dieser Formulierung bedeutet, dass es sich bei formalen Fehlern dem ersten Anschein nach um unbedeutende und damit unbeachtliche Verstöße handeln dürfte.

In § 6 Abs. 2 werden die unbedeutenden Fehler definiert. Es würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, alle Punkte (Abs. 2 a-g) aufzuführen, die als unbedeutende Fehler definiert sind. Die Praxis zeigt allerdings, dass trotz der ausführlichen Regelung in § 6 Abs. 2 des Rahmenvertrages Rezepte mit formalen Fehlern immer noch ganz oder teilweise retaxiert werden.

Ein besonderes Ärgernis ist dabei die Retaxation auf null. Die Arzneimittel werden abgegeben, die Kostenerstattung durch die Krankenkassen bleibt jedoch aus. Hier wird teilweise von „Diebstahl“ gesprochen, zumindest im Hinblick auf unbedeutende Formfehler (so Thomas Rochell, Vorsitzender des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe, DAZ 47/2022, S. 58 ff).

„Der Null-Retaxierung aufgrund von Formfehlern sind dem Grunde nach enge Grenzen gesetzt. Davon lassen sich die Kassen oft aber nicht abschrecken. Eine gerichtliche Klärung der Verhältnismäßigkeit kann Abhilfe schaffen.“

Die Retaxation auf null hat bereits das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Dieses hat mit Beschluss vom 07.05.2014 (AZ: 1 BvR 3571/13, 1 BvR 3572/13) die Retaxation auf null bei Nichtbeachtung von Rabattverträgen (§ 129 Abs. 1 Satz 3 SGB V) für verfassungsgemäß erklärt, da die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung und damit die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung von so hoher Bedeutung sei, dass dies einen Eingriff in das Recht der Berufsausübung nach Artikel 12 Grundgesetz rechtfertigen könne.

Auch das Bundessozialgericht hat (Urteil vom 25.11.2015 – AZ: B 3 KR 16/15) eine Retaxation auf null für zulässig gehalten, wenn gegen einen Exklusivliefervertrag verstoßen wird. Zulässig soll die Retaxation auf null auch dann sein, wenn der gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 o AMVV erforderliche Stempel fehlt (Sozialgericht Reutlingen, Urteil vom 13.02.2019 – AZ: S 1 KR 1134/18).

Retaxation darf Apotheken nicht übermäßig belasten

Lichtblicke gewähren zwei jüngere Gerichtsentscheidungen. Das Landessozialgericht Hamburg hat sich mit seiner Entscheidung vom 17.02.2022 (AZ: L 1 KR 145/19) ebenfalls mit einer Nullretaxation beschäftigt. Grund der Beanstandung waren im Zusammenhang mit der Abgabe von parenteraler Ernährungslösung die vom Arzt unterschriebenen Rezepturen auf Verordnungsblättern, die nach Auffassung der Krankenkassen den formalen Anforderungen nicht genügten. Das Gericht hatte zwar festgestellt, dass grundsätzlich ein Formverstoß vorliegt, weil pro Rezept nur ein Verordnungsblatt verwendet werden darf und führt aus, dass lediglich die Verletzung einer Ordnungsvorschrift vorliege. Dies sei ein weniger gravierender Verstoß.

Interessant ist, dass das Landessozialgericht Hamburg in diesem Kontext auf die Einführung der oben zitierten Neuregelung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 d im Rahmenvertrag verweist: Diese soll Apotheken bei unbedeutenden Formfehlern vor unsachgemäßer Retaxation auf null und damit vor wirtschaftlicher Überforderung schützen. Diesen Rechtsgedanken stellt das LSG Hamburg ausdrücklich als Prüfkriterium heraus. Das ist letztlich Ausfluss des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, an der sich auch sozialrechtliches Handeln messen lassen muss.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das Sozialgericht Mainz in seiner Entscheidung vom 07.12.2022 (AZ: S 3 KA 14/19): Es hat den Regress einer vertragsärztlichen Vergütung aufgrund einer Vielzahl von Verordnungen, die der Arzt nicht selbst unterschrieben hatte, geprüft. Das Gericht erwägt, ob der Regress gegen das Übermaßverbot verstößt, das seine Grundlage in den Geboten von Treu und Glauben (§ 242 BGB) hat. In dem zu entscheidenden Sachverhalt hat das Sozialgericht Mainz im Ergebnis einen Regress abgelehnt, weil die damit einhergehende finanzielle Belastung immens sei und sich gravierend auf die Lebensverhältnisse des Arztes ausgewirkt hätte. Dagegen komme den Interessen der Krankenkasse nur ein geringeres Gewicht zu, weil auch feststehe, dass der Arzt für die Therapieentscheidung verantwortlich war.

Aus beiden Entscheidungen ist für die Praxis abzuleiten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Rechtsverstoß und Rechtsfolge überprüfbar ist und die Apotheke durch die Retaxation nicht übermäßig belasten darf. Bei jeder Art von Formverstoß, aber auch bei eher geringfügigen materiellen Abweichungen kann und sollte im Einspruchs- und Klageverfahren eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden.

Schwierig wird es allerdings bei gravierenden Verstößen gegen die Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) oder das Apothekengesetz (ApoG). So ist die Abgabe eines Arzneimittels nach § 17 Abs. 5 Satz 2 ApBetrO ausgeschlossen, wenn sich aus der Verordnung erhebliche Bedenken gegen die Abgabe für den Apotheker ergeben (abgelehnt jüngst durch das Sozialgericht Hannover mit Urteil vom 14.09.2022 – AZ: S 20 KA 56/20 – zur Mitverantwortung einer Apotheke bei einem Regress gegen einen Hausarzt wegen Abgabe eines hochpreisigen Krebsmedikamentes). Liegt der Abgabe eine verbotene Zuweisung nach § 11 Abs. 1 ApoG zugrunde (z. B. wegen einer verbotenen Kooperation zwischen Arzt und Apotheke), können die Krankenkassen ohne Weiteres auf null retaxieren.

Fazit

Bei Verstößen gegen Formvorschriften und geringfügigeren materiellen Verstößen ist die Retaxation auf null nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit überprüfbar. Der Rahmenvertrag nach § 129 SGB V hat dem für Formvorschriften bereits Rechnung getragen. Es ist Aufgabe der Gerichte, diesen Grundsatz weiter zu entwickeln, um dem Gesetzgeber und den Krankenkassen Maßstäbe für eine volkswirtschaftlich sinnvolle und für die Apotheken zumutbare Regelung der Retaxation an die Hand zu geben. Dabei sollte die Chance genutzt werden, mit der Einführung des E-Rezeptes besser handhabbare und sachgerechte Prüfmechanismen zur Vermeidung von Retaxationen umzusetzen.

Dr. Markus Rohner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, RST Dr. Rohner & Partner mbB, 45128 Essen, E-Mail: mrohner@rst-beratung.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2023; 48(04):6-6